Kurzgeschichten

Winter

Kurz vor ihrem Tod erzählte meine Großmutter von ihrem Köln. Niemand ahnte bis dahin, dass es dieses Köln gab. Aber so war es. Das war ihre Geschichte.

Meine Großmutter war für ihre Zeit eine ungewöhnliche Frau. Sie war sehr klug, sehr groß und sehr schön. Jede Eigenschaft für sich allein genommen schon eine bloße Provokation, in jenem Land und in jener Zeit.

Sie war eine gütige und sehr sanftmütige Frau, die immer unter der Beobachtung ihrer Außenwelt stand. Aus dieser Position heraus war sie stets bemüht es immer besonders richtig zu machen. Es immer allen recht zu machen.

Trotz ihres jungen Alters erlangte sie so rasch das

Vertrauen der Menschen um sie herum. Sie wurde zu ihrer Vertrauensperson, wenn es um die kleinen und auch um die großen Krankheiten ging. Die des Körpers und die der Seele. Heute hat man für jedes Leiden einen eigenen Arzt. Einen für die Ohren, einen für die Knochen, einen für das Herz und einen für die Angelegenheiten des Herzens. Diese große und kluge Frau lernte durch stilles Beobachten, wie sie mehr tun konnte als Linderung zu schaffen. Immer unter argwöhnischer Beobachtung der Menschen um sie herum. Vieles schaute sie sich also heimlich ab, wenn sie den Ärzten bei der Arbeit über die Schulter blickte. Vieles las sie sich an, aus Büchern die nicht für sie bestimmt waren.

Doch dann kam der Krieg und die meisten Ärzte verließen das Dorf, die Stadt und irgendwann auch das Land. Sie flickten notdürftig Menschen zusammen, damit sie kurz darauf wieder notdürftig zusammengeflickt werden konnten. Vielleicht die schönste Zeit für meine Großmutter, eine Zeit in der sie nicht mehr beobachtet wurde. Eine Zeit, in der man dankbar ihre Hilfe annahm und nicht mehr fragte, warum sie so viel wollen würde und können würde, immer etwas unangemessenes dahinter vermutend.

Doch auch diese Zeit ging zu Ende. Plötzlich war das ihr bekannte Land ein anderes. Die Besitzansprüche änderten sich und da wo vorher ein Dorf stand, gab es nur noch eine Ansammlung von Straßen. Es gab nunmehr eine Straße mit Deutschen und schon der Nachbar wohnte in der mit Polen. Meine Großmutter war jetzt eine solche Deutsche und als diese musste sie ihrem neuen Herren dienen. Sie wurde als Krankenschwestern nach Köln gerufen, wo ihre Dienste benötigt wurden.